Reflexionshilfe zum Szenario

Bitte beantworten Sie die folgenden Fragen

 

1.    Wie gehe ich in dieser Situation mit dem Kind / der Jugendlichen / dem jungen Erwachsenen um?
(Was braucht die Person in dem Moment?)

 

2.    Welche Haltung unterstützt mich dabei, mit der Situation angemessen umzugehen?
(Welche innere Haltung oder welches Grundverständnis hilft mir?)

 

3.    Welche fachlichen oder persönlichen Kompetenzen helfen mir in dieser Situation weiter?
(Was kann ich konkret einsetzen – Wissen, Erfahrung, Techniken?)

 

4.    Wie kann Selbstfürsorge während und nach der Situation konkret aussehen?
(Was hilft mir, nicht über meine Grenzen zu gehen?)

 

5.    Was würde ich jemandem, der neu in der Schulbegleitung ist, auf Grundlage dieser Situation als Tipp oder Faustregel mitgeben?
(Welche Erkenntnis oder Empfehlung nehme ich mit?)

Szenario 1: Erwartungsdruck im Klassenraum

Frau J. begleitet seit einigen Monaten Liam, neun Jahre alt, in der vierten Klasse einer Grundschule. Bei Liam wurden eine Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung sowie eine Teilleistungsstörung im Bereich Schriftspracherwerb diagnostiziert. Er zeigt ein hohes Maß an motorischer Unruhe, Schwierigkeiten in der Fokussierung sowie ein impulsives Verhalten, das im Schulalltag regelmäßig zu Konflikten führt. Trotz der Herausforderungen hat Frau J. eine Arbeitsbeziehung zu ihm aufgebaut, die auf Verlässlichkeit, Struktur und möglichst wenig Überforderung basiert.

An diesem Dienstagvormittag steht ein Schreibprojekt zum Thema Märchen auf dem Plan. Die Kinder sollen eigene Texte verfassen, mit klarer Gliederung und sprachlichem Anspruch. Bereits zu Beginn des Unterrichts ist die Situation angespannt. Liam zappelt auf seinem Stuhl, spricht leise vor sich hin, lässt seinen Stift wiederholt fallen, steht auf, läuft kurz durch den Raum, setzt sich wieder. Andere Kinder fühlen sich gestört und reagieren zunehmend gereizt. Ein Mädchen ruft: „Liam, kannst du nicht mal still sein?“ – einige lachen, andere schütteln den Kopf.

Der Klassenlehrer, Herr S., wirkt sichtlich überfordert. Er versucht, die Klasse zu fokussieren, ermahnt einzelne Kinder, unterbricht mehrfach die Arbeitsphasen, geht energisch durch die Reihen. Als Liam erneut laut auflacht und sich umdreht, um einem Mitschüler etwas zuzurufen, geht Herr S. direkt auf Frau J. zu. Mit fester Stimme, hörbar für mehrere Kinder im Raum, sagt er:
„Das geht so nicht. Ich brauche jetzt Ihre Unterstützung. Liam versteht die Aufgabe nicht und stört die ganze Klasse. Setzen Sie sich bitte sofort neben ihn und erklären Sie ihm alles Schritt für Schritt. Und sorgen Sie dafür, dass er leise ist – ich habe hier noch 25 andere Kinder.“

Liam hat das Gespräch mitbekommen. Er duckt sich leicht und schaut verunsichert zu Frau J. Einige Kinder beobachten die Szene und tuscheln. Frau J. spürt den wachsenden Druck – von der Lehrkraft, von der Klasse, von Liam. Sie steht im Spannungsfeld zwischen dem Anspruch, für Ruhe zu sorgen, den Förderbedarf des Kindes zu berücksichtigen und dabei weder ihre Rolle noch Liams Würde aus dem Blick zu verlieren.

Szenario 2: Unsichtbar im Lehrerzimmer

Frau J. begleitet seit einigen Monaten Mina, zehn Jahre alt, in der vierten Klasse einer Grundschule. Sie spricht im Unterricht nur auf direkte Nachfrage, arbeitet meist allein und wirkt häufig müde und abwesend.

Frau J. ist über Wochen hinweg zunehmend irritiert über verschiedene Beobachtungen: Mina bringt nie ein Frühstück mit, lehnt Essensangebote zunächst ab, fragt dann leise nach etwas, wenn sie sich unbeobachtet fühlt. Ihre Kleidung ist häufig nicht witterungsgerecht – dünne Kleidung im Januar, Turnschuhe ohne Socken. Sie wirkt müde, trägt dieselben Kleidungsstücke an mehreren Tagen hintereinander. Besonders auffällig: ihre Zähne sind stark verfärbt, teilweise beschädigt. Beim Gespräch darüber sagt Mina: „Mama sagt, Zahnarzt ist eh Quatsch.“

In einer ruhigen Unterrichtsphase erzählt Mina beiläufig, dass sie abends oft allein sei. Einmal sagt sie leise: „Wenn Mama wieder schreit, leg ich mich ins Bad. Da ist es nicht so laut.“ Frau J. fragt vorsichtig nach, doch Mina reagiert mit einem flüchtigen Lächeln und redet sofort über etwas anderes.

Frau J. ist verunsichert. Sie dokumentiert ihre Beobachtungen sorgfältig und wendet sich an die Klassenlehrerin mit der Bitte um ein Gespräch. Diese reagiert ausweichend: „Mina ist halt sensibel. Die Familie hat’s nicht leicht, aber das ist jetzt auch nicht unser Auftrag.“ Auf Nachfrage, ob der schulische Kinderschutzprozess angestoßen werden könne, wird ihr geraten, „das erstmal intern zu beobachten“. Eine Ansprechperson für den Kinderschutz kann Frau J. nicht benennen – sie ist in diesen Prozess nicht eingebunden.

Im Kollegium bleibt sie außen vor, bei Teambesprechungen wird sie nicht einbezogen. Im Lehrerzimmer wird auf ihre Nachfrage hin gesagt: „Das sind Vermutungen. Solange da nichts Konkretes ist, macht man sich eher Probleme als dass man hilft.“

Frau J. fragt sich, ob sie mit ihren Sorgen übertreibt – oder ob hier ein Kind durch alle Raster fällt.

Szenario 3: Zwischen den Stühlen

Herr K. begleitet ein elfjähriges Mädchen mit einer Autismus-Spektrum-Störung an einer Grundschule mit Inklusionsschwerpunkt. Das Mädchen ist sehr intelligent, hat aber große Schwierigkeiten mit sozialen Situationen, Reizverarbeitung und plötzlichen Veränderungen im Schulalltag. Herr K. arbeitet seit einigen Monaten mit ihr zusammen. Er hat sich bemüht, eine stabile, vertrauensvolle Beziehung aufzubauen und achtet darauf, ihr Rückzugsmöglichkeiten zu geben, ihre Selbstregulation zu fördern und sie nicht zu überfordern.

Die Eltern des Mädchens sind sehr präsent und engagiert – sie haben einen klaren Blick auf die Schwierigkeiten ihrer Tochter, aber auch genaue Vorstellungen davon, wie die Unterstützung aussehen soll. In regelmäßigen E-Mails fordern sie Herrn K. auf, bestimmte Verhaltensweisen zu korrigieren, geben genaue Anweisungen („Bitte lassen Sie sie nicht mehr allein auf dem Schulhof, auch nicht in der kleinen Pause“), und bitten um tägliche schriftliche Rückmeldungen zum Verhalten ihrer Tochter. Sie erwarten, dass Herr K. regulierend eingreift, wann immer sich das Mädchen emotional zurückzieht oder auf Ansprache nicht reagiert. In einem Telefonat sagte die Mutter wörtlich: „Sie müssen sie da durchlotsen – sie darf sich nicht immer rausziehen, sonst gewöhnt sie sich daran.“ Die Klassenlehrerin hingegen vertritt einen ganz anderen Ansatz. Sie erwartet, dass das Mädchen sich stärker in das Klassenleben integriert und zunehmend selbstständig agiert. Sie bittet Herrn K., sich im Unterricht zurückzuhalten und möglichst nur im Hintergrund präsent zu sein. Bei Problemen solle er das Kind eher „laufen lassen“ und nicht gleich intervenieren. In einem Gespräch mit dem Kollegium sagte sie: „Wenn sie ständig abgeschirmt wird, wird sie nie lernen, mit der Welt klarzukommen.“

Herr K. steht zunehmend unter Druck. Die Erwartungen an ihn sind widersprüchlich: Auf der einen Seite soll er das Mädchen eng begleiten, regulieren, beschützen – auf der anderen Seite soll er sich zurücknehmen, Loslösung ermöglichen und möglichst nicht sichtbar sein. Beide Seiten – Eltern wie Lehrkraft – äußern deutlich ihre Vorstellungen, sprechen aber nicht miteinander. Herr K. fühlt sich zerrissen, beginnt sich hilflos zu fühlen und fragt sich, wie er seine Rolle in diesem Spannungsfeld verantwortungsvoll ausfüllen kann.

Szenario 4: Nähe oder Grenze?

Herr T. begleitet seit einigen Wochen einen 15-jährigen Jugendlichen an einer Gemeinschaftsschule. Der Jugendliche hat eine längere Jugendhilfebiografie, war mehrfach in stationären Einrichtungen untergebracht und lebt derzeit in einer Wohngruppe. In der Schule zeigt er sich meist distanziert, mitunter provokant oder abwehrend. Gleichzeitig sucht er immer wieder gezielt Herrn T.'s Aufmerksamkeit – oft über Umwege: Er macht ironische oder abwertende Kommentare, verweigert Aufgaben mit demonstrativem Desinteresse oder fordert Herrn T. mit kleinen Grenzüberschreitungen heraus.

In einigen Momenten, etwa wenn Herr T. ruhig bleibt oder klare Strukturen bietet, lässt der Jugendliche Nähe zu – allerdings nie direkt. Stattdessen bleibt er in einer Mischung aus Widerstand und Abhängigkeit. In den Pausen folgt er Herrn T. manchmal kommentarlos, lehnt Gespräche aber häufig mit einem „Lass mich in Ruhe“ ab. Gleichzeitig spürt Herr T., dass der Jugendliche aufmerksamer reagiert, wenn er nicht ignoriert wird – als würde er ständig testen, ob er wirklich gemeint und gemeint ist.

Herr T. bemüht sich, Verlässlichkeit und Orientierung zu geben, ohne sich vereinnahmen zu lassen. Er merkt aber zunehmend, dass ihn die emotionalen Schwankungen des Jugendlichen fordern. Mal wird er mit offener Ablehnung konfrontiert, mal sucht der Jugendliche unterschwellige Nähe über Gespräche über Musik, Witze oder provokante Themen. Die ständige Unklarheit, was gerade „echt“ ist und was eine Abwehrhaltung, verunsichert Herrn T.

Im Kollegium gibt es keine einheitliche Einschätzung. Eine Lehrerin meint, man müsse bei Jugendlichen „nicht alles persönlich nehmen“, ein Sozialarbeiter betont hingegen, wie wichtig es sei, Signale jenseits der Fassade zu erkennen. Die Schulleitung verweist auf professionelle Distanz, ohne nähere Orientierung zu geben.

Herr T. fragt sich, wie viel Beziehung sein Auftrag tatsächlich zulässt. Muss er „mehr dranbleiben“ – oder gerade Grenzen setzen? Wie lässt sich eine professionelle Haltung entwickeln, wenn die Beziehung ambivalent und die Rolle unklar bleibt? Und wie geht man damit um, wenn der Jugendliche scheinbar gleichzeitig Nähe sucht und ablehnt?