Gruppe 1

„Einfach nur eine Vorschrift?“

Ort: Gemeinschaftsunterkunft für Geflüchtete, ländlicher Raum, 90 Plätze

Fallbeschreibung:

Fatima (37) lebt mit ihren drei Kindern (4, 8, 13) seit acht Monaten in der Unterkunft. Die Familie hat in Syrien Krieg, Flucht und den Tod des Vaters erlebt. Die Kinder sind auffällig ruhig, nachts aber häufig unruhig, besonders der Jüngste schreit regelmäßig. Fatima spricht kaum Deutsch, fühlt sich im Alltag isoliert. Es gibt keine festen Ansprechpersonen für psychosoziale Unterstützung in der Einrichtung, Sprachmittler:innen steht nur bei offiziellen Anträgen zur Verfügung.

Seit Kurzem gibt es neue Hausregeln: Ab 22 Uhr ist Ruhepflicht. Bewohner:innen dürfen dann nicht mehr in den Flur oder Gemeinschaftsraum, um andere nicht zu stören. Fatima wird nun regelmäßig vom Sicherheitsdienst gerügt, wenn sie mit dem schreienden Kind kurz auf dem Flur steht, um das Baby zu beruhigen.

Letzte Woche wurde sie vom Wachdienst dabei gefilmt und ermahnt.

 Ein Wachmann sagt im Pausenraum: „Wir haben doch klare Regeln. Wenn wir da Ausnahmen machen, will das jeder.“

Arbeitsauftrag für die Breakout-Gruppe

  1. Welche Gewaltformen sind hier erkennbar – strukturell, institutionell, epistemisch?

  2. Was macht die Situation aus Sicht von Fatima so belastend – was aus Sicht des Personals?

  3. Welche Spielräume hätte die Einrichtung – auch ohne Regelbruch?

Was wären gewaltsensible Alternativen in diesem Fall – konkret im System der Unterkunft?

Gruppe 2

„Das wird schon wieder“

Ort: Gemeinschaftsunterkunft, städtische Lage, ca. 150 Personen
Zielgruppe: Geflüchtete Einzelpersonen und Paare, v. a. Männer im Alter zwischen 20 und 45

Fallbeschreibung:

Bashir (28), afghanischer Herkunft, lebt seit zwei Jahren in der Unterkunft. Er spricht gut Deutsch, hat jedoch in den letzten Monaten zunehmend psychosomatische Beschwerden, Schlafprobleme und wirkt stark zurückgezogen. Ein junger Sozialarbeiter beobachtet, dass Bashir immer häufiger weint, sich aus Gesprächen zurückzieht und in der Küche mehrfach wie abwesend dasitzt. Auf Nachfrage sagt Bashir: „Ich bin einfach müde. Ich will nicht mehr kämpfen.“

Der Sozialarbeiter bringt das Thema in der Teamsitzung ein. Die Reaktion der Leitung:

„Herr B. war doch früher sehr engagiert, der war sogar ehrenamtlich aktiv. Ich denke, das ist nur eine Phase. Vielleicht braucht er einfach eine Aufgabe. Außerdem: Wir können kein Therapieersatz sein.“

Ein Antrag von Bashir auf ein externes psychologisches Unterstützungsangebot wurde vor zwei Monaten abgelehnt – Begründung: keine akute Notlage, keine Aufenthaltsregelung.
Der Sozialarbeiter fragt sich, ob er weiter nachhaken oder sich lieber zurückziehen soll, da seine Einschätzung im Team mehrfach als „überempfindlich“ bezeichnet wurde.

Arbeitsauftrag für die Breakout-Gruppe

  1. Welche Formen von Gewalt sind in dieser Situation erkennbar (strukturell, epistemisch, institutionell)?

  2. Was sagt die Reaktion des Teams über das institutionelle Verständnis von Schutz und Verantwortung aus?

  3. Welche Rolle spielen hier Macht und Deutungshoheit – wer wird gehört, wer nicht?

  4. Was wären konkrete gewaltsensible Handlungsmöglichkeiten für das Team oder den Sozialarbeiter?

Gruppe 3

„Die lacht zu laut“

Ort: Gemeinschaftsunterkunft mit Fluren und Gemeinschaftsküche.
Zielgruppe: Geflüchtete Männer und Frauen aus verschiedenen Herkunftsländern, viele ohne gesicherten Status.

Fallbeschreibung:

Awa (24) ist alleinstehend, kommt aus Guinea und lebt seit vier Monaten in der Unterkunft. Sie ist trotz ihrer Fluchtgeschichte lebensfroh, extrovertiert, hört gern Musik (leise über Kopfhörer), kocht mit anderen Bewohnerinnen und lacht viel. Seit einigen Wochen wird sie immer wieder von einer kleinen Gruppe junger Männer, die ebenfalls in der Einrichtung leben, mit abschätzigen Kommentaren bedacht:

„So eine wie dich hätte man früher gesteinigt“,
„In unserem Land wärst du nicht so frech“,
oder
„Du solltest dich schämen.“

Zunächst lacht Awa darüber hinweg. Dann beginnt sie, sich zurückzuziehen. Sie meidet die Küche, wirkt angespannt, isst weniger, kleidet sich konservativ – obwohl sie das vorher nicht getan hat. Eine Mitbewohnerin macht eine Bezugsperson im Team darauf aufmerksam. Diese sagt:

„Solche Konflikte gibt’s in jeder Unterkunft. Die müssen das unter sich klären – wir können nicht ständig alles regeln.“

Arbeitsauftrag für die Breakout-Gruppe

  1. Welche Gewaltformen sind hier erkennbar (individuell, strukturell, epistemisch)?

  2. Was macht diese Situation zu mehr als einem „persönlichen Konflikt“?

  3. Welche Rolle spielt hier Intersektionalität – und warum ist das wichtig für Gewaltschutz?

  4. Was könnte ein professioneller, gewaltsensibler Umgang sein – auch wenn Awa sich nicht selbst beschwert?

Gruppe 4

„Einfach weg – Dublin“

Ort: Zentrale Unterbringungseinrichtung, 250 Plätze

Zielgruppe: Gemischte Herkunftsländer, viele alleinreisende Männer und Paare ohne Kinder

Fallbeschreibung:

Dawit (36) stammt aus Eritrea. Er lebt seit fast einem Jahr in der Unterkunft. Er spricht kaum Deutsch, aber bemüht sich um Kontakt, hilft regelmäßig bei der Essensausgabe und ist bei Mitbewohnern beliebt. Sein Asylverfahren läuft – zuletzt wurde er darüber informiert, dass sein Fall im Rahmen der Dublin-Verordnung geprüft werde, weil er zuerst in Italien registriert wurde.

Eines Morgens ist Dawits Bett leer. Auf Nachfrage sagt die Leitung:

„Herr D. wurde im Rahmen des Dublin-Verfahrens nach Italien rücküberstellt. Es war rechtlich vorgesehen.“

Einige Bewohner berichten, dass nachts Polizisten gekommen seien und Dawit keine Chance hatte, sich zu verabschieden oder Sachen zu packen.
Mitarbeitende der Einrichtung sind irritiert, weil niemand intern informiert wurde. Eine pädagogische Fachkraft fragt, ob Dawit wenigstens wusste, dass die Abschiebung unmittelbar bevorsteht. Die Leitung antwortet:

„Das läuft über die Ausländerbehörde. Wir sind da nicht zuständig.“

In der Küche wird am Tag danach kaum gesprochen. Zwei Mitbewohner haben Angst, sie könnten „die Nächsten sein“. Eine junge Kollegin merkt an, sie fühle sich machtlos und frage sich, was sie eigentlich sagen darf – oder muss.

Arbeitsauftrag für die Breakout-Gruppe (25 Minuten):

  1. Welche Gewaltformen sind hier erkennbar (institutionell, strukturell, epistemisch)?

  2. Warum wirkt eine Dublin-Abschiebung – obwohl rechtlich geregelt – als Form von Gewalt?

  3. Welche Auswirkungen hat die Situation auf die betroffene Person, die Mitbewohner und das Team?

  4. Was wären gewaltsensible Mindeststandards für solche Vorgänge – trotz begrenztem Handlungsspielraum?