Traumasensibilität und Gewaltschutz

Trauma und Gewaltschutz sind untrennbar miteinander verbunden. Gewalt hinterlässt oft tiefe Spuren, die sich nicht nur auf das Leben der Betroffenen, sondern auch auf ihr Verhalten, ihre Wahrnehmung und ihre Beziehungen auswirken können. Umso wichtiger ist es, dass Fachkräfte und Unterstützende im Gewaltschutz traumasensibel handeln. Traumasensibilität bedeutet, die oft unsichtbaren Folgen von Traumata zu erkennen, zu verstehen und im Umgang mit Betroffenen bewusst darauf zu reagieren. Sie stellt sicher, dass Betroffene nicht erneut verletzt werden und legt den Fokus auf Heilung und Resilienz.

 

In der folgenden Liste zeige ich 8 Gründe, warum eine traumasensible Herangehensweise unverzichtbar für effektiven Gewaltschutz ist.

 

Wie sieht traumasensibler Umgang im Rahmen von Gewaltschutz aus?

Ein traumasensibler Umgang im Gewaltschutz bedeutet, Betroffene mit Einfühlungsvermögen, Respekt und einem tiefen Verständnis für die Folgen von Trauma zu begleiten. Dabei stehen folgende Prinzipien im Mittelpunkt:

  1. Sicherheit schaffen: Ein traumasensibler Umgang beginnt mit der Schaffung eines sicheren Umfelds. Das bedeutet, physische Sicherheit (z. B. sichere Räume) und emotionale Sicherheit (z. B. respektvolle Kommunikation) zu gewährleisten.

  2. Autonomie respektieren: Gewalt nimmt Betroffenen oft das Gefühl von Kontrolle. Traumasensibilität gibt ihnen diese Kontrolle zurück, indem Entscheidungen gemeinsam getroffen werden und die Betroffenen selbstbestimmt agieren können.

  3. Trigger erkennen und vermeiden: Fachkräfte sollten geschult sein, Auslöser für Retraumatisierung zu erkennen und gezielt zu vermeiden, etwa durch sensible Gesprächsführung oder angemessene Berührungen.

  4. Beziehung auf Augenhöhe: Statt einer hierarchischen Haltung setzt traumasensibler Umgang auf Partnerschaftlichkeit und gegenseitiges Vertrauen.

  5. Ressourcen stärken: Traumatisierte Menschen haben oft das Gefühl von Ohnmacht. Traumasensibilität hilft, innere und äußere Ressourcen zu stärken, um Resilienz und Selbstwirksamkeit zu fördern.

Im Kern bedeutet traumasensibler Gewaltschutz, immer die Perspektive der Betroffenen einzunehmen und sie aktiv in den Prozess einzubinden, um eine nachhaltige Unterstützung und Heilung zu ermöglichen.

1. Sensibilisierung von Fachkräften

Traumasensibilität im Gewaltschutz beginnt bei den Fachkräften, die täglich mit Gewaltbetroffenen arbeiten. Diese sind oft die ersten Ansprechpersonen und spielen eine entscheidende Rolle dabei, wie Betroffene Unterstützung erleben. Ohne ausreichendes Wissen über Trauma können unbewusste Fehler passieren, die die Situation verschlimmern oder zu einer Retraumatisierung führen. Deshalb ist die Sensibilisierung von Fachkräften ein zentraler Bestandteil eines traumasensiblen Ansatzes.

Fortbildungen und Schulungen helfen Fachkräften, die komplexen Dynamiken von Trauma zu verstehen, typische Trauma-Reaktionen einzuordnen und angemessen darauf zu reagieren. Sie lernen, klare und wertschätzende Kommunikation zu pflegen, individuelle Bedürfnisse der Betroffenen zu erkennen und ihre Grenzen zu respektieren.

Diese Sensibilisierung stärkt nicht nur die Handlungskompetenz der Fachkräfte, sondern auch ihre eigene Resilienz. Sie sind dadurch besser in der Lage, schwierige Situationen zu bewältigen, während sie einfühlsam und professionell bleiben – eine Win-win-Situation für Fachkräfte und Betroffene gleichermaßen.

 

2. Verstehen von Trauma-Folgen

Trauma hat weitreichende Auswirkungen auf die Psyche, den Körper und das Verhalten von Betroffenen. Oft entspricht das Verhalten von Gewaltbetroffenen jedoch nicht den festgefahrenen Vorstellungen, die viele von uns haben. Es gibt kein „typisches“ Verhalten einer traumatisierten Person – die Reaktionen können von Rückzug, Angst und Dissoziation bis hin zu scheinbarer Gleichgültigkeit, Wut oder sogar extrovertierter Lebendigkeit reichen. Diese Vielfalt ist Ausdruck individueller Schutzstrategien, die tief in der Traumaerfahrung verwurzelt sind.

Ein traumasensibler Umgang im Gewaltschutz bedeutet, diese Vielfalt anzuerkennen und Verhaltensweisen nicht zu bewerten oder zu pathologisieren. Stattdessen geht es darum, solche Reaktionen als normale Folgen extremer Belastung zu verstehen. Indem Fachkräfte sich von stereotypen Bildern lösen und jede Person individuell betrachten, schaffen sie Raum für Empathie und Akzeptanz. Diese Haltung ist entscheidend, um Vertrauen aufzubauen und Betroffenen die Möglichkeit zu geben, sich auf ihren eigenen Weg der Heilung einzulassen.

 

3. Vermeidung von Retraumatisierung

Ein zentraler Aspekt von Traumasensibilität im Gewaltschutz ist die Vermeidung von Retraumatisierung. Menschen, die Gewalt erlebt haben, tragen oft tiefe emotionale Narben, und bestimmte Situationen, Worte oder Handlungen können alte Wunden aufreißen. Dies geschieht oft unbewusst, wenn Fachkräfte oder Unterstützende nicht ausreichend für die Dynamiken von Trauma sensibilisiert sind. Retraumatisierung kann durch autoritäres Verhalten, mangelnde Einfühlsamkeit oder das Erzwingen von Details über das Erlebte ausgelöst werden.

Ein traumasensibler Ansatz hingegen schafft ein Umfeld, das Sicherheit und Vertrauen vermittelt. Dazu gehört, klare und respektvolle Kommunikation zu pflegen, Autonomie und Grenzen der Betroffenen zu wahren und stets auf mögliche Auslöser (Trigger) zu achten. Ziel ist es, den Betroffenen ein Gefühl von Kontrolle und Stabilität zurückzugeben. Dies bildet die Grundlage für jede weitere Unterstützung, da Heilung nur in einem sicheren und wertschätzenden Raum möglich ist.

 

4. Förderung von Sicherheit

Sicherheit ist die Grundlage jedes traumasensiblen Ansatzes im Gewaltschutz. Gewaltbetroffene haben oft das Gefühl, dass die Welt ein unsicherer und unberechenbarer Ort ist. Dieses Gefühl wird durch traumatische Erlebnisse verstärkt, die ihre Schutzmechanismen und ihr Vertrauen in Menschen oder Systeme erschüttert haben. Umso wichtiger ist es, dass Fachkräfte gezielt daran arbeiten, ein Umfeld zu schaffen, in dem sich Betroffene sicher fühlen – sowohl physisch als auch emotional.

Physische Sicherheit bedeutet, dass die Umgebung frei von Bedrohungen ist, beispielsweise durch abschließbare Räume oder klare Schutzmaßnahmen. Emotionale Sicherheit entsteht durch respektvolle Kommunikation, Verlässlichkeit und das Wahrnehmen der individuellen Grenzen der Betroffenen.

Dies hängt natürlich stark von den Gegebenheiten des Betreuungskontextes ab, z.B. Beratungsstelle oder Wohneinrichtung, Geflüchtetenunterkunft mit enger Belegung usw.

Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die Vorhersehbarkeit: Traumatisierte Menschen fühlen sich sicherer, wenn sie wissen, was sie erwartet. Klare Informationen, transparente Abläufe und das Einholen von Zustimmung in jedem Schritt helfen, Vertrauen aufzubauen. Dieses Sicherheitsgefühl ist die Basis, auf der Betroffene Stabilität entwickeln und weitere Unterstützung annehmen können.

 

5. Stärkung von Autonomie

Gewalt nimmt Betroffenen oft das Gefühl von Kontrolle über ihr Leben. Eine traumasensible Herangehensweise im Gewaltschutz legt deshalb großen Wert darauf, ihre Autonomie zu stärken. Für viele Betroffene ist es von zentraler Bedeutung, die Kontrolle über Entscheidungen zurückzugewinnen – ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur Heilung.

Ein traumasensibler Umgang respektiert die persönlichen Grenzen der Betroffenen und gibt ihnen Raum, eigene Entscheidungen zu treffen. Dies beginnt bei kleinen Dingen, wie der Wahl, ob ein Gespräch jetzt geführt werden soll oder ob bestimmte Themen angesprochen werden dürfen. Fachkräfte sollten dabei darauf achten, nicht über die Köpfe der Betroffenen hinweg zu entscheiden, sondern sie aktiv in alle Prozesse einzubinden.

Die Stärkung der Autonomie hat eine tiefgreifende Wirkung: Sie vermittelt den Betroffenen, dass sie wieder Handlungsspielraum haben und aktiv an ihrer eigenen Zukunft mitwirken können. Dadurch wird nicht nur das Vertrauen in andere, sondern auch in die eigene Stärke gefördert.

 

6. (Wieder-)Aufbau von Vertrauen

Vertrauen ist eine der ersten Fähigkeiten, die durch Gewalt und traumatische Erlebnisse erschüttert wird. Betroffene haben oft erlebt, dass Menschen, denen sie vertrauten, sie im Stich gelassen, verletzt oder manipuliert haben. Dieses zerstörte Vertrauen wirkt sich auf zukünftige Beziehungen aus und beeinflusst, wie offen Betroffene Unterstützung annehmen können.

Ein traumasensibler Umgang im Gewaltschutz setzt deshalb darauf, Vertrauen langsam und behutsam wieder aufzubauen. Das erfordert Verlässlichkeit, Transparenz und Einfühlungsvermögen seitens der Fachkräfte. Es ist wichtig, Versprechen einzuhalten, klare Grenzen zu wahren und stets respektvoll zu kommunizieren. Zudem hilft es, sich nicht nur auf Worte, sondern auch auf Taten zu konzentrieren, da Vertrauen oft durch konkrete positive Erfahrungen entsteht.

Dieser Prozess kann Zeit brauchen, doch er ist entscheidend, um eine stabile Basis für die Unterstützung und Heilung der Betroffenen zu schaffen. Vertrauen gibt ihnen die Möglichkeit, sich wieder auf zwischenmenschliche Beziehungen einzulassen und neue Sicherheit zu finden.

6. Langfristige Heilung ermöglichen

Gewaltschutz geht weit über die akute Unterstützung hinaus – er legt den Grundstein für die langfristige Heilung der Betroffenen. Traumatische Erlebnisse wirken oft tief in die Psyche und den Körper hinein, und ihre Folgen können Jahre oder sogar Jahrzehnte bestehen bleiben. Traumasensibilität im Gewaltschutz ist entscheidend, um Heilungsprozesse zu fördern und Betroffenen Werkzeuge an die Hand zu geben, mit denen sie ihre Resilienz stärken können.

Ein traumasensibler Ansatz erkennt an, dass Heilung ein individueller und oft nicht linearer Prozess ist. Er bietet Raum für Rückschläge, unterstützt aber gleichzeitig dabei, Fortschritte sichtbar zu machen. Fachkräfte schaffen sichere Räume, in denen Betroffene sich mit ihrer Geschichte auseinandersetzen können, ohne Druck oder Wertung zu erleben.

Langfristige Heilung bedeutet auch, Ressourcen zu stärken – sei es durch psychosoziale Unterstützung, Zugang zu Gemeinschaften oder durch den Aufbau von Selbstwirksamkeit. So können Betroffene lernen, nicht nur mit den Folgen ihrer Erfahrungen umzugehen, sondern auch ein erfülltes und selbstbestimmtes Leben zu führen.

8. Systemische Perspektive im Gewaltschutz

Gewaltschutz ist nie isoliert zu betrachten, sondern immer in größere gesellschaftliche und institutionelle Systeme eingebunden. Eine traumasensible Herangehensweise berücksichtigt nicht nur die individuellen Bedürfnisse von Betroffenen, sondern hinterfragt auch systemische Strukturen, die Gewalt fördern oder die Heilung behindern könnten. Dies kann etwa starre Bürokratie, fehlende Zugänglichkeit zu Hilfsangeboten oder mangelnde interdisziplinäre Zusammenarbeit umfassen.

Traumasensibilität im System bedeutet, Hindernisse abzubauen und Prozesse zu gestalten, die Betroffene stärken, anstatt sie zu belasten. Klare Kommunikation zwischen verschiedenen Akteur:innen – wie Fachkräften, Institutionen und Gemeinden – ist dabei essenziell. Ebenso wichtig ist die Schaffung von Netzwerken, die Betroffenen helfen, Unterstützung auf mehreren Ebenen zu erhalten.

Ganz konkret bedeutet dies, dazu beizutragen, dass Gewaltbetroffenen sensibel begegnet wird, wenn sie das Hilfesystem in Anspruch nehmen, z.B. wenn Betroffenen Gefahr laufen, im Hilfesystem rassistische, ableistische, sexistische oder andere Diskriminierung zu erfahren, was es unmöglich macht, Vertrauen in ebendiese Strukturen zu entwickeln.

Ein systemischer Blick sorgt dafür, dass Gewalt nicht nur individuell bekämpft wird, sondern dass auch die Strukturen verändert werden, die Gewalt begünstigen. Traumasensibilität ist so ein Schlüssel, um langfristig resilientere Systeme zu schaffen, die Prävention, Intervention und Heilung miteinander verbinden.

 

 

Quellen- und Literaturhinweise

https://medicamondiale.org/gewalt-gegen-frauen/trauma-und-traumabewaeltigung/trauma-arbeit-stress-und-traumasensibler-ansatz

Hensel, J., & Schäfer, I. (2011). Retraumatisierung – Annäherung an eine Begriffsbestimmung. Zeitschrift für Psychotraumatologie, Psychotherapiewissenschaft und Psychologische Medizin, 9(2), 43–52.

https://www.diakonie.at/file/download/8187/file/traumasensibles-arbeiten-2021-dzs.pdf

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