Gewaltschutz & Empowerment

In diesem Artikel möchte ich mich mit dem Zusammenhang von Empowerment und Gewaltschutz beschäftigen: damit, warum Empowerment in einem Gewaltschutzkonzept zur Sprache kommen sollte. Der Begriff Empowerment ist in den letzten Jahrzehnten zum festen Bestandteil des Diskurses um Soziale Arbeit geworden, und dennoch fehlt gelegentlich eine vertiefte Auseinandersetzung mit dem Thema. Aus diesem Grund möchte ich hier auch die Frage nach der "Schattenseite" dieses Begriffs aufwerfen und darüber nachdenken, ob Empowerment-Ansätze sinnhaft sind, ohne den Rückbezug auf Themen sozialer Gerechtigkeit.

Gemeinhin ist dieser Ansatz durch die folgenden Punkte gekennzeichnet:

  • Hohe Bedeutung von Autonomie & Selbstbestimmung. Soziale Arbeit fördert die Entscheidungsfreiheit und die Fähigkeit von Klientinnen, eigene Ziele zu definieren und ihre Lebenssituation aktiv zu gestalten. Der Fokus liegt auf den Stärken & Ressourcen der Empfängerinnen, da vorhandene Potenziale erkannt und genutzt werden sollen.

  • Empowerment impliziert eine aktive Beteiligung an Entscheidungsprozessen.

  • Empowerment will Informationen & Wissen vermitteln, mit dem Ziel, die Entscheidungskompetenz der Klient*innen zu steigern und zum Treffen fundierter Entscheidungen beizutragen.

  • Machtstrukturen & gesellschaftliche Normen werden angesprochen & kritisiert.

  • Schaffung von Netzwerken und die Zusammenarbeit mit anderen Ressourcen und Akteur*innen: soziale Unterstützungssysteme sollen genutzt werden.

  • Übernahme von Verantwortung für das eigene Handeln und die eigenen Entscheidungen sollen angeregt werden. Handlungsfähigkeit soll gestärkt werden, und die Klient*innen sollen in der Lage sein, sich aktiv für ihre Ziele einzusetzen.

  • Empowerment in der Sozialen Arbeit berücksichtigt gesellschaftliche Diversität (kulturelle Unterschiede, Geschlechterperspektiven und individuelle Bedürfnisse).

  • Veränderungen sollen langfristig erfolgen, da die Wirkungen nur so nachhaltig bleiben. Soziale Arbeit unterstützt dabei, ihre Ressourcen langfristig zu nutzen und zukünftige Herausforderungen eigenständig zu bewältigen.

All diese Themenkomplexe tauchen in Gewaltschutzkonzepten auf, und es lässt sich beobachten, dass Empowerment an der Kernursache von Gewaltvorfällen ansetzen möchte, nämlich dem Hierarchiegefälle in Bezug auf gesellschaftliche Macht, die das Zusammentreffen von Institutionen und betreuten Menschen kennzeichnet.
In der Konsequenz stellt das Konzept des Empowerment die Sozialarbeiter*innen vor die Herausforderung, mit einem veränderten Menschenbild zu arbeiten und eine professionelle Grundhaltung mit folgender Ausrichtung an den Tag zu legen:

  • Selbstbefähigung

  • Ressourcenorientierung

  • Selbstorganisation

  • Expert*innenkritik

  • Vermeidung starker Interventionen

Welche Kritikpunkte werden am Empowerment-Ansatz geäußert und wie wirken sich diese auf die Tauglichkeit für Gewaltschutzprozesse aus?

  • Es gibt zahlreiche verschiedene Deutungen und wenig Merkmale, die zu einer verbindlichen Definition beitragen.

  • Durch die hohe Abstraktionsebene, auf welcher die Diskussion um diesen Begriff stattfindet, bietet er wenig praktische Orientierungspunkte für die tägliche Arbeit.

  • Empowerment enthält eine Paradoxie: Es verlangt das, was eigentlich erst erreicht werden soll – Handlungskompetenz.

  • Macht und Machtverhältnisse in der Gesellschaft (und der Sozialen Arbeit) werden häufig ausgeblendet, bzw. nicht als veränderbar dargestellt. Die Perspektive will überwiegend die Stärkung des Individuums jenseits seiner sozialen Positionierung im Gesellschaftsgefüge.

  • Besonders marginalisierte Menschen haben einen sehr geringen Handlungsspielraum, und das ist politisch so gewollt (z.B. Geflüchtete ohne Bleibeperspektive, die eine Duldung besitzen).

  • Schafft die Illusion einer Augenhöhe zwischen Professionellen und Klient*innen, welche in der Realität nicht vorhanden ist.

  • Kann tatsächlich vorhandene, auch schwerwiegende, Probleme der Klient*innen ausblenden.

Welche Herangehensweisen gibt es an den Empowerment-Begriff?
Gemäßigte Ansätze wollen die individuellen Lebensverhältnisse von einzelnen Personen verbessern. Strukturelle Ungleichheiten und Machtgefälle in der Gesellschaft stehen nicht im Fokus. Linke, bzw. aktivistische Ansätze betonen hingegen die soziale Gerechtigkeit und sprechen sich gegen Strukturen aus, die Menschen zuerst in die Marginalisierung bringen.
Die empfehlenswerte Handreichung Empowerment in der offenen Kinder- und Jugendarbeit von der Amadeu-Antonio-Stiftung stellt folgende Statements in diesem Zusammenhang auf:

  • „Selbstbestimmung jenseits der Worthülse“ ist das Ziel, da Worte alleine wenig Wert haben.

  • Ungleichheitserfahrungen sind kein individuelles Schicksal, sondern durch die Gesellschaft herbeigeführt.

  • Aus diesem Grund ist ein reines Arbeiten an individuellen Problemlagen immer unvollständig, wenn nicht die gesellschaftlichen Bedingungen in den Blick genommen werden.

  • Viele gesellschaftliche Probleme von marginalisierten Menschen sind direkt hergestellt und wären (zumindest theoretisch) abschaffbar:

    • Restriktive Gesetze (z.B. für Menschen mit Duldung) machen Empowerment zur Utopie.

    • Mangelnde Barrierefreiheit (z.B. für Menschen, die einen Rollstuhl benutzen) ebenso.

„Ich verstehe Empowerment als aktiven Prozess gesellschaftlich unterdrückter Subjekte und Gruppen, sich selbst zu ermächtigen, mit dem Selbstwahrnehmung, Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung einhergeht. Selbstbestimmung bedeutet hierbei: ›Ich lasse nicht geschehen und über mich ergehen, sondern ich bin die, die mitentscheidet, handelt, sich gemeinsam mit anderen als politischer Akteurin begreift und auf ein Mehr an sozialer Gerechtigkeit hinwirkt.‹ Beim Nachdenken über Empowerment spreche ich einem Denken in Utopien eine zentrale Rolle zu: Ich muss mir vorstellen können, dass es anders als jetzt sein kann, dass grundlegende gesellschaftliche Veränderungen möglich sind und alle gleiche Rechte und Möglichkeiten haben – unabhängig von Aussehen, sozialem oder biologischem Geschlecht, Alter, Religion, sexueller Orientierung, sozialer Herkunft, gesundheitlicher Verfassung u.a. Empowerment zielt auch darauf ab, Ohnmachtsgefühle zu überwinden sowie Wünsche und Forderungen zu formulieren, die ich dann in Handlungen münden lasse.“

In Bezug auf Empowerment in der offenen Kinder- und Jugendarbeit regt die Amadeu Antonio Stiftung zu den folgenden Punkten an, die sich mühelos auch auf andere Bereiche des Sozialwesens übertragen lassen:

  • Antisemitismus und Rassismus ernst nehmen und benennen! Diese Diskriminierungsformen sind, ebenso wie Sexismus, Ableismus, Adultismus und andere keine Labels, sondern benennen extrem belastende Lebensrealitäten für betroffene Menschen und müssen in jedem Fall als solche wahrgenommen werden, auch und vor allem von denjenigen Menschen, die nicht von ihnen betroffen sind.

  • Jugendliche sind die Expert*innen für ihre Lebensrealität! Empowerment darf nicht dazu dienen, Verantwortung von den Strukturen wegzunehmen und den Betroffenen aufzubürden, sondern es geht darum, ihnen zuzuhören und ihre Perspektive genauso ernst zu nehmen wie die Perspektive der Professionellen.

  • Schutzräume schaffen! Gesellschaftliche Realität ist anstrengend für marginalisierte Menschen, und sichere Orte geben erst die Kraft, über Mitsprache und Empowerment nachdenken zu können.

  • Ressourcen stärken und Sichtbarkeit fördern! Die Erfordernisse nach Gewaltschutz und Mitbestimmung, welche gefordert werden, sind nicht mit den ständigen Kürzungen im Sozialwesen vereinbar.

  • Kommunale Netzwerke (er)finden! Isolation ist nicht empowernd, das Gefühl, alleine zu sein, kann schwächend wirken.

  • Zivilgesellschaftliches Engagement auch außerhalb der Mehrheitsgesellschaft einbeziehen!

  • Fachkräfte als Vorbilder begreifen!

  • Die eigene Einrichtung mit anderen Augen sehen!

  • Auf die Dauer hilft nur Power-sharing! Eine ernsthafte Arbeit an einer gewaltfreien Einrichtung oder gar an einer gewaltfreien Gesellschaft darf nicht zurückschrecken, wenn Fragen von Macht gestellt werden.

  • Empowerment für Fachkräfte mit Antisemitismus- und/oder Rassismuserfahrungen implementieren! Das Gleiche gilt auch für andere marginalisierte Menschen und solche mit Diskriminierungserfahrungen: Menschen mit Diskriminierungserfahrungen sind wertvolle Mitarbeitende im Sozialwesen.

Was bedeutet all das für die Praxis der Schutzkonzept-Entwicklung?
Aus diesen Punkten gehen eine Reihe von Hürden hervor, die sich den Verantwortlichen im Zuge der Implementierung von Gewaltschutzmaßnahmen mit Empowerment-Ansätzen in den Weg stellen:

  • Kommunikationsbarrieren: Je nach Klient*innen-Gruppe kann es aufgrund von Sprachkenntnissen, Alter, Entwicklungsstand, körperlicher Verfasstheit und anderen Merkmalen schwierig sein, Informationen zu vermitteln und zu erhalten.

  • Vertrauensbarrieren: In der Regel handelt es sich um Menschen, die in Einrichtungen des Sozialwesens und in Unterkünften für Geflüchtete leben. Diese Menschen sind häufig von Diskriminierung betroffen. Sie stehen einer privilegierten Mehrheitsgesellschaft gegenüber, die oftmals Vorurteile hegt und sie eingeschränkten Kontexten unterwirft (Wohnsitzauflagen, vorgegebene Tagesstruktur usw.). Dies erschwert es, Vertrauen in Hierarchien und Organisationen zu haben.

  • Barrieren durch Sachzwänge: Oftmals wünschen sich die betroffenen Menschen eine andere Lebensrealität, als diejenige, in der sie sich befinden. Geflüchtete wollen einen sicheren Aufenthaltsstatus für sich und ihre Angehörigen. Menschen mit Behinderungen möchten privat leben und eigenständig ihren Lebensunterhalt verdienen. Dies liegt meist außerhalb des Einflussbereiches der Einrichtung oder des Trägers. Die scheinbare Verweigerung der dringlichsten Wünsche kann dazu führen, dass andere Themen nicht angesprochen werden.

Welche Lösungsansätze gibt es?

  • Niedrigschwelligkeit: Bei der Konzeptionierung aller Maßnahmen muss die Art der Vermittlung von Beginn an mitgedacht werden. Der Kanal, auf dem die Maßnahme stattfinden soll, um alle Menschen der Einrichtung zu erreichen, muss fundamentaler Teil der Planung sein. Ein späteres Adaptieren, "damit es passt", wirkt meist improvisiert und verfehlt sein Ziel.

  • Transparenz: Die Klientinnen haben ein Recht, genau zu wissen, warum was nicht möglich ist, bzw. welche Stelle zuständig ist. Es ist fatal für das Vertrauen, wenn unbequeme Fragen nicht gestellt werden dürfen. Klientinnen kann und darf erklärt werden, was warum nicht geht und an welchen Stellen Veränderungen möglich sind.

  • Verständnis: Der Alltag in den Einrichtungen kann sehr stressig sein. Wenig Personal und geringe Zeit für viele zu betreuende Menschen mit zahlreichen Problemlagen können schnell zu Überforderung führen. Ungeduldige und ungehaltene Antworten von Mitarbeitenden schaffen kein vertrauensvolles Klima.

  • Kontakt auf Augenhöhe: Hierarchien sind eine Tatsache in sozialen Kontexten. Dies zu leugnen, ist nicht zielführend. Vielmehr gilt es, sich der Hierarchien bewusst zu sein und gezielt daran zu arbeiten, den Klient*innen im Alltag mit Respekt zu begegnen: Zuhören und Ernstnehmen steigern die Bereitschaft zu einer Mitarbeit an Maßnahmen, zu echter Mitsprache.

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Menschenrechte in Gewaltschutzkonzepten – Chancen und Herausforderungen

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